Helmholtz-Zentrum Deutsches Geoforschungszentrum

Türkei-Beben 2023 – Die Analyse

Neueste Untersuchungen von Erdbebendaten der Region seit 2014: Anzeichen für vorbereitenden Prozess in Form räumlich und zeitlich geclusterter Bebenfolgen in den 8 Monaten vor dem Beben.

Das Kahramanmaraş-Beben und seine Folgen

Am 6. Februar 2023 aktivierte das verheerende Kahramanmaraş-Erdbeben der Stärke 7,8 in der Südosttürkei mehrere Verwerfungssegmente der „Ostanatolischen Verwerfungszone“, die die anatolische und die arabische tektonische Platte trennt. Auf dieses Erdbeben und seine Nachbebenfolge folgte etwa 9 Stunden später ein zweites großes Erdbeben der Stärke 7,6, das etwa 90 Kilometer vom Epizentrum des ersten Hauptbebens entfernt war. Die beiden verheerenden Erdbeben in der Südost-Türkei im Februar 2023 mit Stärken von 7,8 und 7,6 haben 60.000 Todesopfer gefordert, 300.000 beschädigte oder zerstörte Gebäude hinterlassen und einen finanziellen Schaden von rund 120 Mrd. US-Dollar.

Suche nach Vorläuferphänomenen für kontinentale Starkbeben

Bislang ist eine kurzfristige Vorhersage des Zeitpunkts, der Stärke und des Ortes künftiger Erdbeben nicht möglich. Forschende suchen jedoch in Feldbeobachtungen und zahlreichen messbaren Parametern, die aus seismischen und geodätischen Daten abgeleitet werden, nach Hinweisen und potenziellen Informationen über ein mögliches kommendes Erdbeben.

In einer heute im Fachmagazin Nature Communications veröffentlichten Studie haben Seismolog:innen um Grzegorz Kwiatek, Patrizia Martínez-Garcón und Marco Bohnhoff vom Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ in Potsdam mit Kolleg:innen der Stanford University (Kalifornien, USA), der Technischen Universität Gebze (Türkei) und des Kandilli Observatory and Earthquake Research Institute Istanbul(Türkei) mögliche seismische Vorläuferprozesse des Kahramanmaraş-Hauptbebens der Stärke 7,8 untersucht. Insbesondere analysierten sie hierfür seismische Wellenformen und Katalogdaten, die seit 2014 von regionalen seismischen Netzwerken aufgezeichnet wurden.

Räumlich-zeitliche Analyse der regionalen Seismizität mit neuesten Methoden der Statistik und des Maschinellen Lernens

Die Analyse der räumlich-zeitlichen Verteilung der regionalen Seismizität führte zu der Beobachtung eines achtmonatigen „Vorbereitungsprozesses“ der Kruste in der Region um das Epizentrum. Das weist auf eine hohe und – was noch wichtiger ist – zunehmende seismische Gefahr in dieser Region hin. Eine derartige raum-zeitliche Fokussierung von Seismizität ist aus kontrollierten Gesteins-Deformationsexperimenten im Labor bekannt und wird dort vor dem Bruch der Gesteinsprobe beobachtet. Das gleiche Phänomen wurde in den letzten Jahrzehnten bei mehreren, allerdings bei weitem nicht bei allen großen Erdbeben entlang kontinentaler Verwerfungszonen beobachtet.

Dr. Grzegorz Kwiatek, Hauptautor der aktuellen Studie, erklärt: „Um spezifische Signaturen in den seismischen Aufzeichnungen aus der Region zu identifizieren, haben wir moderne Datenverarbeitungstechniken eingesetzt, die auf statistischen Analysen und Maschinellem Lernen basieren. Dadurch konnten wir mehrere raumzeitlich geclusterte Bebensequenzen in einem Radius von 50 Kilometern um das Hauptbeben herum identifizieren, die etwa 8 Monate vor dem Hauptbeben begannen.“

Seismizitätscluster acht Monate vor dem Hauptbeben

Insbesondere das Auftreten zweier vorübergehender räumlich-zeitlicher Seismizitätscluster, die im Juni 2022 begannen und ca. 20 Kilometer vom späteren Epizentrum des Erdbebens entfernt lagen, erregte die Aufmerksamkeit der Seismolog:innen. Diese repräsentieren eine beschleunigte seismische Aktivität in der Region um das Epizentrum. Zudem wurden deutlich mehr größere als kleinere seismische Ereignisse beobachtet.

Dr. Patricia Martínez-Garzón, die die Studie geleitet hat, betont: „Diese Beobachtungen deuten auf einen möglichen Spannungsaufbau in der Region des späteren Epizentrums in den Monaten vor dem Erdbeben hin. Zwar wurden im untersuchten Zeitraum von 2014 bis 2023 bereits andere Seismizitätscluster bis zu 65 Kilometer vom späteren Epizentrum entfernt beobachtet. Diese wiesen allerdings keine vergleichbaren räumlich-zeitlichen Eigenschaften auf. Der Vergleich unserer Beobachtungen mit denen vor einigen großen Erdbeben an der San-Andreas-Verwerfung in Kalifornien zeigt uns, dass die Analyse solcher auf mittlerer Zeitskala ablaufenden Vorläuferprozesse dazu beitragen kann, Erdbebenprognosesysteme in der Zukunft zu verbessern.“

Kurzfristige Vorhersage weiterhin nicht möglich

In den letzten Wochen vor dem Kahramanmaraş-Erdbeben kam es im Umkreis von 10 Kilometern um das spätere Hauptbeben nur zu einer vergleichsweise geringen seismischen Aktivität, wie die Forschenden aus den Wellenformdaten mithilfe von Maschinellem Lernen abgeleitet haben. Sie fanden am Ort des späteren Epizentrums  also keine Hinweise auf eine kurzfristige Änderung unmittelbar vor dem Hauptbeben, wie sie etwa beim Izmit-Erdbeben der Stärke 7,6 von 1999 im westlichen Teil der Nordanatolischen Verwerfung beobachtet wurde. Das wird dadurch erklärt, dass die Verwerfung im Süosten der Türkei vergleichsweise jünger und weniger ‚glattgeschliffen‘ ist als um Izmit.

Prof. Marco Bohnhoff, Leiter der GFZ-Sektion „Geomechanik und Wissenschaftliches Bohren“, fasst zusammen: „Unsere Beobachtungen sind zwar eine wichtige Erkenntnis, um die Prozesse, die – auf der Zeitskala von Monaten – zu großen Erdbeben führen, besser zu verstehen. Aber die kurzfristige Vorhersage solcher Ereignisse ist derzeit weiterhin nicht möglich und bleibt ein langfristiges Ziel unserer seismologischen Forschungen. Allerdings zeigt unsere Studie, dass es auf Basis geeigneter Messungen prinzipiell möglich ist, Orte kommender möglicher Erdbeben bereits Monate vor deren Eintreten zu identifizieren. Das gibt den lokalen Behörden wichtige Informationen an die Hand, um die Resilienz von Bevölkerungszentren in der Nähe aktiver Verwerfungen zu verbessern.“

Ausblick und Anwendung auf Istanbul

Die Seismizität, die dem Kahramanmaraş-Erdbeben vorausging, weist einige Ähnlichkeiten mit Beobachtungen auf, die bei kontrollierten Gesteins-Deformationsexperimenten im Labor gemacht wurden. Die Variabilität der verschiedenen vor Erdbeben beobachteten Nukleationsprozesse und die Schwierigkeit, Vorläuferphänomene, die zu Erdbeben führen, von anderen, nichtrelevanten Signalen zu unterscheiden, stellt nach wie vor eine große Herausforderung dar, und eine mittelfristige Erdbebenwarnung Monate vorher – sofern überhaupt möglich – liegt noch in der Zukunft der Seismologie. Um diesem Ziel jedoch Schritt für Schritt näher zu kommen, entwickeln Forschende des GFZ aktuell verfeinerte Methoden dieser aktuellen Studie, um sie auf Langzeitbeobachtungen in der Region Istanbul mit ihren rund 20 Millionen Einwohnern zu übertragen. Dort ist ein großes Erdbeben einer Magnitude 7 oder stärker überfällig. Das GFZ Potsdam betreibt in der Region das bohrlochgestützte GONAF-Observatorium mit dem Ziel, die Beobachtungslücke zwischen kontrollierbaren Laborexperimenten und unkontrollierbaren natürlichen Erdbeben, die eine große Gefahr für die Menschheit darstellen, weiter zu verringern.

 

Finanzierung:

Dr. Martínez-Garzón wird durch den ERC Starting Grant QUAKEHUNTER (101076119) finanziert. GONAF ist Teil der GFZ-Initiative “Plate Boundary Observatory” und wurde von deutschen, türkischen und US-amerikanischen Behörden sowie vom Internationalen Kontinentalen Wissenschaftlichen Bohrprogramm ICDP, das am GFZ Potsdam angesiedelt ist, kofinanziert.


Originalstudie:

Kwiatek, G., Martínez-Garzón, P., Becker, D. et al. Months-long seismicity transients preceding the 2023 MW 7.8 Kahramanmaraş earthquake, Türkiye. Nat Commun 14, 7534 (2023). DOI: 10.1038/s41467-023-42419-8
https://www.nature.com/articles/s41467-023-42419-8

Wissenschaftlicher Kontakt

Wissenschaftlicher Kontakt

Wissenschaftlicher Kontakt

Medienkontakt

Weitere Meldungen

zurück nach oben zum Hauptinhalt