Helmholtz-Zentrum Deutsches Geoforschungszentrum

Kriechen und Verhaken vor Istanbul: Systematisches Bild der Plattengrenze im Marmara-Meer

Studie gibt einzigartige Einsichten in die Erdbebengefahr und mögliche Erdbebenszenarien der Region

Zusammenfassung

Im Marmarameer südlich der 16-Millionen Metropole Istanbul liegt die Grenze zwischen der eurasischen und der anatolischen Erdplatte, die so genannte Marmara-Hauptverwerfung (Main Marmara Fault, MMF). Dieser Plattenkontakt ist schon lange nicht mehr gebrochen, so dass hier ein Erdbeben mit einer Magnitude von über 7 überfällig ist. Forschende um Dirk Becker und Marco Bohnhoff vom Deutschen GeoForschungsZentrum Potsdam (GFZ) geben im Fachmagazin Geophysical Research Letters erstmals ein systematisches Gesamtbild über verhakte und kriechende Bereiche entlang dieser Verwerfung. Grundlage hierfür ist ein neuer, hochauflösender Seismizitätskatalog und der Einsatz neuester Datenprozessierungstechniken.

Während durch Kriechen und damit verbundene kleinere wiederkehrende Beben, sogenannte „Repeater“, Spannung abgebaut wird, staut sie sich in verhakten Bereichen immer weiter auf, womit die Gefahr eines größeren Bebens steigt. Insbesondere fanden die Forschenden, dass unterhalb des westlichen Teils des Marmarameeres der überwiegende Teil der Plattenverschiebungsenergie durch langsames und damit aseismisches Kriechen freigesetzt wird, wohingegen dieser Anteil ostwärts immer kleiner wird, bis die Verwerfung südlich von Istanbul schließlich komplett verhakt ist – und somit Energie aufstaut. Damit liefert die Studie angesichts der seismischen Gefährdung der Region wichtige Informationen für Erdbebenszenarien und damit die Bewertung des seismischen Risikos und der Gefährdung für die Megacity.

Die Erdbebengefahr in der Region Istanbul

Die Marmara-Hauptverwerfung (Main Marmara Fault, MMF) südlich der 16-Millionen-Einwohner-Metropole Istanbul wird als „seismische Lücke“ bezeichnet:  Dort ist ein sehr starkes Erdbeben der Magnitude M > 7 überfällig. Das lässt sich aus historischen Erdbebenkatalogen schließen, die ein derartiges Ereignis im Schnitt etwa alle 250 Jahre verzeichnen. Zuletzt hatte es dort im Jahr 1766 ein vergleichbares Beben der Magnitude 7,4 gegeben.

Ein wichtiger Parameter zur Abschätzung der Energiefreisetzung bei einem Starkbeben – und damit zur Risikoabschätzung in nahegelegenen Ballungszentren – lässt sich daraus ableiten, ob und wo die Verwerfung verhakt ist oder teilweise kriecht. Verhakte Bereiche sammeln im Gegensatz zu kriechenden Segmenten tektonische Deformationsenergie an, bis die Gesteinsfestigkeit erreicht wird. Sie sind dann häufig Ausgangspunkt für Starkbeben. Liegt dieser Ausgangspunkt nah an Ballungszentren, ist die Frühwarnzeit entsprechend kürzer.

Seismische Repeater als Indikatoren für kriechende Bereiche

Wenn sich tektonische Platten entlang ihrer Kontaktzone gegeneinander bewegen, verformen sie sich aseismisch durch sogenanntes Kriechen. Innerhalb dieser Kriechzone, die meist aus kleingemahlenem Gesteinsmehl besteht, gibt es manchmal spröde Bereiche, die sich während des Plattenkriechens ineinander verhaken und dann in Form von kleineren Erdbeben wiederholt brechen. Diese Beben treten an exakt der gleichen Stelle immer wieder auf, mit gleicher Wellenform und ähnlicher Stärke, und werden daher auch als „seismische Repeater“ („Wiederholbeben“) bezeichnet. Sie sind damit Indikatoren für kriechende Bereiche. Entlang verhakter Segmente treten diese Repeater nicht auf.

Suche nach „Repeatern“ in neuen Erdbebenkatalogen

Zur Identifikation von kriechenden Bereichen einer Verwerfung haben die Forschenden daher gezielt nach solchen seismischen Repeatern gesucht. Zum Team gehörten Dirk Becker, Patricia Martínez-Garzón, Christopher Wollin und Marco Bohnhoff vom Deutschen GeoForschungsZentrum Potsdam sowie Tuğbay Kılıç von der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD.

Als Grundlage für ihre Analysen haben sie den bestehenden Erdbebenkatalog der Marmara-Region signifikant erweitert, so dass er nun die Jahre 2006 bis 2020 vollständig umfasst. Darin sind jetzt 13.812 Ereignisse verzeichnet. Sie alle wurden mithilfe neuer Algorithmen, dem sogenannten „template matching“ neu verortet und anhand verschiedener Kriterien in ihrer Charakteristik untersucht. Auf dieser Basis können Repeater-Beben von normalen Beben unterschieden werden, die räumlich und zeitlich irregulär auftreten.

Insgesamt hat das Forschungsteam 30 signifikante Repeater-Bebensequenzen mit 101 Einzelereignissen im Magnitudenbereich 1,7 bis 3,5 identifiziert. Die Anzahl der Wiederholungen lag jeweils zwischen 2 und 9.

Interpretation der Daten

„Auffallend ist, dass fast alle Repeater-Sequenzen entlang des westlichen Teils der Marmara-Verwerfung auftreten. Im zentral-östlichen Bereich wurden nur drei Sequenzen identifiziert – und südlich von Istanbul gar keine“, resümiert Dirk Becker, Hauptautor der Studie. „Unsere Datenauswertung deutet darauf hin, dass die Kriechprozesse im Westen den größten Teil der tektonischen Energie kompensieren. Dieser Kriechanteil verringert sich dann ostwärts systematisch. Dort sind die Abschnitte der Marmara-Verwerfung dann vollständig verhakt.“

Mögliche Bebenszenarien in der Marmara-Istanbul-Region

Das bevorstehende große Beben wird wahrscheinlich in einer vollständig verhakten Region seinen Ursprung nehmen, also entlang des Segments der Prinzen-Inseln unmittelbar südlich von Istanbul – oder aber westlich des Marmarameeres entlang der ebenfalls verhakten Ganos-Verwerfung, die zuletzt 1912 gerissen ist. Im letzteren Fall könnte die abgeschätzte Maximalmagnitude von 7.4 sogar überschritten werden.

Bezüglich der Dynamik eines solchen Bebens gehen die Forschenden davon aus, dass sich ein ebenfalls möglicher Bruchbeginn in einer Übergangsregion zwischen kriechenden und verhakten Bereichen stärker auf die benachbarten verhakten Bereiche der Verwerfung auswirken würde. Demnach würde sich ein Bruchbeginn im westlichen Marmarameer höchstwahrscheinlich nach Westen ausbreiten. Umgekehrt würde ein Bruch am Kriechübergang im zentral-östlichen Marmarameer dazu führen, dass sich der Bruch ostwärts in Richtung Istanbul ausbreitet, was dort stärkere Bodenbewegung und damit ein höheres seismisches Risiko zur Folge hätte.

Einschätzung der Studie

„Die hier vorgelegte Studie liefert ein differenziertes Bild der Dynamik der Plattenbewegung an einer kritisch gespannten Verwerfung in unmittelbarer Nähe zu einer Megacity. Der systematische Übergang zwischen verhakten und kriechenden Segmenten ist in dieser Form weltweit einmalig. Er konnte nur durch neueste Prozessierungsverfahren entschlüsselt werden. Die daraus abgeleiteten Szenarien für das bevorstehende ‚Istanbulbeben‘ sind essenziell für eine bessere Risikoabschätzung der Region und dem daraus abzuleitenden Massnahmen für bestmöglichen Schutz der dortigen Bevölkerung“, resümiert Marco Bohnhoff, Leiter der GFZ-Sektion 4.2 „Geomechanik und Wissenschaftliches Bohren“ und Professor an der FU Berlin.

 

Projektförderung: Dirk Becker und Patricia Martínez-Garzón wurden durch die Helmholtz-Gemeinschaft im Rahmen der Nachwuchsgruppe VH-NG-1232 (SAIDAN) gefördert. Open-Access-Förderung ermöglicht und organisiert durch das Projekt DEAL.

Originalstudie: Becker, D., Martínez-Garzón, P., Wollin, C., Kılıç, T., & Bohnhoff, M.  (2023). Variation of fault creep along the overdue Istanbul-Marmara seismic gap in NW Türkiye. Geophysical Research Letters, 50, DOI: 10.1029/2022GL101471.
https://doi.org/10.1029/2022GL101471

 

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