Helmholtz-Zentrum Deutsches Geoforschungszentrum

Maschinelles Lernen hilft, Vorboten eines Erdbebens zu erkennen

Maschinelles Lernen hilft, Vorboten eines Erdbebens zu erkennen: Eine neue Labor-Studie liefert ermutigende Ergebnisse für die Prognose der „Zeit bis zum Beben“

Erdbeben mit ihren direkten Auswirkungen wie Tsunamis, Bränden und Erdrutschen sind die zweitgrößte Naturgefahr weltweit – nach tropischen Stürmen. Die Vorhersage des Zeitpunkts, der Stärke und des Ortes von Erdbeben ist daher von entscheidender Bedeutung, aber noch nicht möglich. Sie gilt als der Heilige Gral der Seismologie in aller Welt. Seit Jahrzehnten bemühen sich Forschende, zuverlässige diagnostische Vorläuferphänomene von Erdbeben zu ermitteln, d.h. einen Parameter oder eine Kombination von Parametern, die vor einem Erdbeben gemessen werden und es ermöglichen, mit hoher Wahrscheinlichkeit den Zeitpunkt eines bevorstehenden Erdbebens vorherzusagen.

Gesteinsdeformation im Labor weist auf wichtige Vorläuferprozesse hin

In einer neuen Studie berichten Dr. Sadegh Karimpouli und ein Team aus der Sektion „Geomechanik und wissenschaftliches Bohren“ des Deutschen GeoForschungsZentrums (GFZ) zusammen mit Forschenden des Deutschen Klimarechenzentrums in Hamburg, der Stanford University, USA, und der University of Memphis, USA, über einen erfolgreichen Ansatz zur Vorhersage der „Zeit bis zum Erdbeben“ – bei Gesteinsdeformationsexperimenten im Labor. Die Forschenden nutzten die akustische Überwachung der Experimente durch spezielle Mikrophone und neuartige Techniken des maschinellen Lernens (ML) zur Analyse der akustischen Wellenformen. Die Ergebnisse wurden in der Zeitschrift Earth and Planetary Science Letters veröffentlicht. Die Studie wurde durch das EU-Projekt HORIZON DT-GEO finanziert. „Wir denken, dass unsere Ergebnisse sehr ermutigend sind“, sagt Erstautor Dr. Karimpouli vom GFZ.

Unabhängig davon, ob die in Gesteinen aufgestaute Energie durch winzige oder große Erdbeben freigesetzt wird, ob also lediglich ein Zentimeter- oder ein 100-Kilometer-Teil einer tektonischen Verwerfung aktiviert wird, geht man davon aus, dass seismischen Ereignissen im allgemeinen Vorläuferprozesse vorausgehen. Diese Vorgänge lassen sich jedoch in der Natur nicht ohne weiteres messen, da man nicht nah genug an den Ort des Geschehens in mehreren Kilometern Tiefe herankommt. „Deshalb bringen wir Gesteinsproben ins Labor und führen dort Experimente unter voller Kontrolle der Randbedingungen durch. Und: Bei diesen Experimenten können wir systematisch Vorläuferprozesse beobachten, die dem Gesteinsbruch vorauseilen, so genannte akustische Emissionen. Dank der hochauflösenden Überwachung im Labor können diese Prozesse erkannt, interpretiert und dann für die Erdbebenprognose im Labor genutzt werden“, sagt Dr. Grzegorz Kwiatek, Arbeitsgruppenleiter in der GFZ-Sektion „Geomechanik und wissenschaftliches Bohren“. Er hat die Studie konzipiert und das Projekt betreut.

„Observationslücke“ zwischen Labor- und Naturmaßstab

Erdbeben sind das Endergebnis eines komplexen tektonischen Ladeprozesses, bei dem sich Energie in der Erdkruste entlang von großen und kleinen Störungszonen ansammelt. Die unzureichende Auflösung, also mögliche Genauigkeit, bei der Beobachtung von Erdbeben in der Natur sowie die Komplexität der natürlichen Verwerfungssysteme machen es jedoch schwierig, die Bedeutung verschiedener Parameter zu untersuchen, die in der Natur als Indikatoren für Vorläuferprozesse gelten könnten. Man spricht hier von einer Observationslücke zwischen Labor- und Naturmaßstab.

Um die Unzulänglichkeiten der Feldbeobachtungen auszugleichen, griff die Forschungsgruppe auf Daten aus „Stick-Slip-Experimenten“ im Labor zurück, mit denen mehrere Erdbebenzyklen einschließlich der Erdbebenvorläuferprozesse in einer vollständig kontrollierten Umgebung nachgestellt werden können. „Stick-slip“ bedeutet, dass die Verwerfung gleitet („slip“), dann stoppt („stick“) und dann wieder belastet wird, bis sie erneut gleitet.

Viele Mini-Beben in Gesteinsprobe beschleunigen Forschung

Dies ist ein Analogon des seismischen Erdbebenzyklus in der Natur, wo es allerdings Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauert, bis der gleiche Bereich wieder ein Erdbeben erzeugt. Um die Forschung zu beschleunigen, stellt man die Prozesse im Labor im Zeitraffer nach.

Dr. Thomas Goebel vom Center for Earthquake Research and Information, University of Memphis, USA, einer der Koautoren der Studie, führte solche Experimente im geomechanischen Hochdrucklabor des GFZ durch. Die zylindrische Granitprobe mit einem Durchmesser von 5 cm und einer Höhe von 10 cm, die eine raue Verwerfung mit einer komplexen Verwerfungsoberfläche enthielt, wurde Spannungen ausgesetzt, die typischerweise in der Erdkruste mehrere Kilometer unter unseren Füßen wirken. Sie wurde dann weiter belastet, um ein Verwerfungsgleiten auszulösen.

Die Experimente führten zu wiederholten Rutschungen der komplexen Verwerfung, die Tausende von akustischen Emissionen erzeugten, was das periodische Auftreten von großen und kleinen Erdbeben an großen Verwerfungssystemen wie der Nord- und Ostanatolischen Verwerfung in der Türkei oder der San-Andreas-Verwerfung in Kalifornien nachahmt.

Der Unterschied zwischen dem natürlichen und dem Labormaßstab besteht in der sorgfältigen Kontrolle der Veränderungen der Spannungs- und Störungscharakteristika. Dies geht einher mit der Möglichkeit, sowohl die seismischen als auch die aseismischen Prozesse mit hoher Auflösung unter Verwendung von Piezosensoren (einer Art Labormikrophone) und anderen Instrumenten genau zu überwachen. Ein aseismischer Prozess ist eine langsame Bewegung einer Verwerfung, bei der im Gegensatz zu den schnellen Bewegungen eines Erdbebens keine zerstörerischen seismische Wellen erzeugt werden.

Zwei bislang unbekannte Vorläuferphänomene sind besonders interessant

Das Projektteam hat aus den aufgezeichneten seismischen Daten im Labor 47 seismo-mechanische und statistische, zeitabhängige Parameter ausgewählt und extrahiert, die Informationen über die räumliche und zeitliche Entwicklung von Spannungen und Schäden in der Labor-Störungszone liefern. Diese Sammlung enthält z. B. klassische, aus Vorbeben abgeleitete Vorläuferparameter wie die Seismizitätsrate oder das Verhältnis von kleinen und großen seismischen Ereignissen.

Das Team verwendete jedoch auch zwei neue Vorhersageparameter, die Hinweise auf die lokale Schadensentwicklung und die Heterogenität des Spannungsfeldes auf der und um die Verwerfungsebene geben. Beide Parameter lassen sich aus der Untersuchung sehr kleiner Signale ableiten, die typischerweise im seismischen Hintergrundrauschen verborgen sind. Sie stammen aus der Ableitung des Verwerfungstyps aus den kleinskaligen akustischen Emissionen und deren Bewegungsmechanismus.

Dr. Sadegh Karimpouli, der Hauptautor der Studie, erklärt: „Der Grundgedanke bei der Auswahl dieser Parameter war zum einen, die Menge an signifikanten Eingangsdaten zu maximieren, die die Komplexität des Erdbebenprozesses abdecken. Andererseits wollten wir Parameter entwickeln, die im Zusammenhang mit den physikalischen Prozessen in der Verwerfungszone leicht zu verstehen sind. Schließlich wollten wir ihre Vorhersagefähigkeiten durch Modelle des maschinellen Lernens (ML) quantifizieren und bewerten, um dann die Zeit bis zum bevorstehenden Versatz im Gestein zu bestimmen – und das ist gelungen.“

Noch zu wenig Daten bei komplexen Verwerfungen: Maschinelles Lernen erschwert

Die Autoren stellen auch einen Unterschied in der Genauigkeit ihrer Ergebnisse im Vergleich zu Studien anderer Gruppen fest, die an einfachen, glatten Verwerfungen durchgeführt wurden. Diese Unterschiede passen gut zu den aktuellen Modellen, wonach die Verwerfungsstruktur und -komplexität eine wichtige Rolle bei der Auslösung und der Stärke von Erdbeben spielen und die Möglichkeiten der Erdbebenvorhersage effektiv bestimmen.

Dr. Karimpouli unterstreicht: „Die Vorhersage der Zeit bis zum Erdbeben für komplexe raue Verwerfungen wie in unserem Fall ist viel schwieriger. Die Komplexität ergibt sich aus der hundertfach geringeren Anzahl von Eingabedaten, was es ML erschwert, zu 'lernen'.“ Er fügt hinzu: „Unsere Beobachtungen des ML-Trainingsprozesses deuten jedoch darauf hin, dass wir mit mehr Eingabedaten aus mehr Experimenten die Leistung des Modells verbessern könnten.“

Resümee

Besonders wichtig an dieser Studie ist, dass das Team in der Lage war, die Bedeutung von Parametern, die Erdbeben vorausgehen, zu gewichten. Sie stellten fest, dass das neu eingesetzte neuronale Netz jede Information ausnutzt, auch solche, die der menschliche Beobachter auf den ersten Blick für unwichtig halten könnte. Zwar ist es bis zu einem universellen Erdbebenvorhersagesystem noch ein gutes Stück Weg. Die Forschenden kommen aber zu dem Schluss, dass die neuen Erkenntnisse das Potenzial haben, die Vorhersage natürlicher Erdbeben entlang tektonischer Verwerfungen in der Natur erheblich voranzubringen.

Derzeit arbeiten die Wissenschaftler:innen daran, ihre Methoden vom Labormaßstab auf den Feldmaßstab zu übertragen, indem sie geeignete, aber seltene Feldbeobachtungen verwenden.

Die vorliegende Studie zeigt, dass mithilfe von ML-Algorithmen, die auf physikalischen Parametern basieren, eine genauere Aussage über den Zeitraum zwischen bestimmten Vorläuferphänomenen und einem Beben auch für komplexe, heterogene, raue Verwerfungen möglich sein könnte.

Weiterführende Arbeiten

Die Arbeitsgruppe „Faulting Mechanics“ unter der Leitung von Dr. Grzegorz Kwiatek untersucht innerhalb der von Prof. Marco Bohnhoff geleiteten GFZ-Sektion ‚Geomechanik und wissenschaftliches Bohren‘ die Möglichkeiten zur Verallgemeinerung der entwickelten ML-Modelle und zur effektiven Nutzung von seismo-mechanischen Vorläufern auf allen räumlichen Skalen der Erdbebenprozesse.

Auf der Skala geologischer Lagerstätten setzt die Forschungsgruppe aktuell ML-Modelle ein, um beispielsweise bei der hydraulischen Stimulierung geothermischer Lagerstätten zu vermeiden, dass es zu größeren „Runaway“-Erdbeben kommt: Wenn solche Beben vorhergesagt werden, kann der Injektionsprozess entsprechend gesteuert werden. So lässt sich der Abbruch eines Geothermieprojektes vermeiden.

 

Originalstudie: Sadegh Karimpouli et al.: “Explainable machine learning for labquake prediction using catalog-driven features” (in: Earth and Planetary Science Letters, DOI: https://doi.org/10.1016/j.epsl.2023.118383)

 

Weitere Informationen und verwandte Projekte:

Projekt GEOREAL

https://www.gfz-potsdam.de/presse/meldungen/detailansicht/geothermie-forschungsprojekt-startet-am-ktb-tiefenlabor

Geothermie-Projekt Helsinki

https://www.gfz-potsdam.de/presse/meldungen/detailansicht/verbessertes-risikomanagement-fuer-die-geothermie

 

Wissenschaftlicher Kontakt

Wissenschaftlicher Kontakt

Wissenschaftlicher Kontakt

Medienkontakt

Weitere Meldungen

zurück nach oben zum Hauptinhalt